Regt euch (nicht) auf!

10.07.2017 von Blog No Comment yet

Der Aufschrei war riesig. Wieder mal. Gerade waren im Halbfinale des Confed-Cups zwischen Deutschland und Mexiko (4:1) Antonio Rüdiger und Chicharito aneinandergeraten. Chicharito maulte ein wenig, Rüdiger motzte zurück. Und ARD-Kommentator Tom Bartels erklärte, der Mexikaner habe sinngemäß gesagt: „Ich hab dich geschubst, aber jetzt mach hier mal nicht den Affen.“

Huijuijui …

Für alle, die im Fußball nicht ganz so zu Hause sind: Rüdiger ist dunkelhäutig und sofort brach im Netz ein derartiger Sturm der Entrüstung los, dass sich Bartels umgehend und live entschuldigte. Das sei auf keinem Fall rassistisch gemeint gewesen.

Oder die Sache mit David Beckham kürzlich. Er postete bei Instagram ein Bild, auf dem er sein fünfjähriges Töchterchen auf den Mund küsst. Dafür gab es Pädophilie-Vorwürfe, mächtige Schlagzeilen – und eine Diskussion, was im Umgang mit den eigenen Kindern noch vertretbar sei.

Nun ist es so, dass man Bartels’ Spruch nicht lustig finden muss. Aber ihm dafür Rassismus zu unterstellen, ist schon mehr als gewagt. Denn wie hätten all die Moralapostel reagiert, wenn es um Julian Brandt und nicht um Antonio Rüdiger gegangen wäre? Müssen sich nicht sogar eher diejenigen hinterfragen, die in einer Redewendung über Affen etwas Fremdenfeindliches hören?

Und zu David Beckham: Es ist die individuelle Entscheidung von Eltern (und deren Kindern!), wie sie das Ganze handhaben. Jeder mag da einen anderen Umgang pflegen. Aber klar ist doch: Es braucht schon sehr viel Phantasie, um bei solch einem Bild an Pädophilie zu denken.

Früher machte man manchmal aus einer Mücke einen Elefanten. Heute aus einer Ameise einen T-Rex. Ein T-Rex gibt halt mehr Klicks als eine Ameise.

Eine Entwicklung, die nicht nur bei den wichtigen gesellschaftlichen Themen wie Rassismus und Pädophilie zu beobachten ist. Das geht auch ein paar Stufen niedriger. Zum Beispiel in einem Feld, in dem wir uns seit über 20 Jahren tummeln: im Sport.

Vor allem das Internet führt zu einer Überhitzung, dort herrscht eine wilde Jagd nach Klicks. Täglich begegnen uns Schlagzeilen, die unglaublich Sensationelles versprechen. Aber nach der Lektüre müssen wir häufig feststellen: große, knallbunte Verpackung – aber als Inhalt nur heiße Luft.

Ähnliches trifft auch auf all die Spekulationen zu, die gerne ohne nähere Überprüfung verbreitet werden. Sicher, manchmal ist es nicht möglich, eine Stellungnahme zu bekommen. Aber einen Versuch wert wäre es schon mal. Kürzlich musste beispielsweise der FC Bayern klarstellen, dass eine Verpflichtung von Cristiano Ronaldo nicht in Frage komme. CR7 war an der Säbener Straße kein Thema – wurde aber im Netz hysterisch zu einem gemacht.

Dazu passt die Geschichte, die uns ein ehemaliger Bundesliga-Pressechef erzählt hat: Das Online-Portal einer großen Tageszeitung hatte vom angeblich bevorstehenden Wechsel eines Top-Stars berichtet. Als der durchaus vertrauenswürdige Medienbeauftragte des Clubs dem Print-Kollegen des Verlags hoch und heilig versicherte, da sei absolut nichts dran, war der skeptisch. Das ist auch zu verstehen, schließlich nimmt man es in diesem Geschäft mit der Wahrheit nicht immer ganz so genau. Deshalb bot ihm der Verein sogar das klare Dementi eines Verantwortlichen zur Veröffentlichung an. Nach Rücksprache mit seiner Online-Redaktion übermittelte der Journalist: „Wir würde es in dieser Form gerne noch ein, zwei Stunden stehen lassen – es ist aktuell die meist geklickte Geschichte.“

Das ist ärgerlich. Für die Betroffenen – aber auch für die Leser, die längst an den Rand der Überforderung getrieben werden. Oder auch darüber hinaus.

Weil das Internet quasi über unendliche Weiten verfügt, gibt es keine Begrenzungen – aber eine Menge Konkurrenz. Und sobald jemand eine große Schlagzeile hat, wird diese von vielen anderen Portalen übernommen. Bis den Konsumenten der Kopf schwirrt. Oder sie vor lauter Sensationen derart abgestumpft sind, dass sie die wirklichen am Ende verpassen.

Es fehlt hier etwas, das guten Journalismus eben auch auszeichnet: Die Gewichtung von Themen. Zeitungsseiten sind endlich. Sendezeiten auch. Da ist ein natürlicher Filter vorgegeben.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Es gibt natürlich auch Internet-Portale, die guten und seriösen Journalismus betreiben. Doch sie führen zuweilen einen Kampf, in dem sie höchstens punktuelle Siege erringen können.

Und so kommt es, dass auch sie sich dem zunehmenden Hang zur Zuspitzung und Vereinfachung nicht komplett entziehen können. Zu begutachten war das gerade beim Confed-Cup. Übrigens nicht nur im Netz, sondern in fast allen Medien. Natürlich war es absolut erstaunlich und respektabel, was das junge deutsche Team dort zeigte. Mit ganz viel Leidenschaft, mannschaftlicher Geschlossenheit und Willen hat die Elf in Russland etwas erreicht, was ihr niemand zugetraut hatte: den Turniersieg. Aber muss man deshalb so tun, als habe die Truppe alle Gegner in Grund und Boden gespielt?

Am Ende ist es doch im Fußball wie im richtigen Leben. Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Es gibt vor allem eine unglaubliche Menge an Grautönen. Zugegeben: Das mag zuweilen langweilig sein.

Aber deshalb muss man doch nicht gleich den Affen machen.